Nur wenige Monate nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten sagte Wladimir Putin in einem Interview, sein früheres Amt als Chef des Geheimdienstes habe viel mit dem eines Journalisten gemein. Seiner Meinung nach müssten beide Informationen sammeln, künstlich erstellen und sie Entscheidungsträgern präsentieren. Diese Methode könne sehr effizient in der Wirkung sein – wenn eine Regierung sie in der Außenpolitik einsetzt. Das war im Jahr 2000.
Journalisten oder Präsidenten, die Informationen künstlich erstellen? Klingt nach dem, was Donald Trump dieser Tage in den USA wiederholt tut: über einen Terroranschlag in Schweden klagen, den es nicht gab. Oder alternative Fakten darüber verbreiten, wie viele Menschen zu seiner Amtseinführung gekommen sind. Würde der verstorbene italienische Autor Carlo Collodi das Handeln des US-Präsidenten beschreiben, Trump hätte eine ähnlich lange Nase wie Collodis Protagonist Pinocchio.
Es gibt einen wichtigen Unterschied im Vergleich zwischen Trump und Wladimir Putin. Bis auf Ausnahmen wie Breitbart (oder abgeschwächt Fox News) jubelt die US-Presse ihrem Präsidenten beim Lügen nicht zu. Da viele Reporter der freien US-Medien ihren Job machen, hat Trump sie gar als “Feind des amerikanischen Volkes” bezeichnet. Natürlich per Tweet.
Putin braucht sich vor der vierten Gewalt einer Demokratie nicht fürchten. Er hat 140-Zeichen-Nachrichten nicht nötig, weil er sich seit seiner Machtübernahme ein ihm ergebenes Medienimperium aufgebaut hat, das weltweit mehrere hundert Millionen Menschen erreicht. Es besteht aus Zeitungen, Büchern, TV-Kanälen, Nachrichtenseiten und bezahlten Trollen, die in sozialen Medien falsche oder verzerrte Deutungen von Ereignissen erzeugen, übernehmen und weiter verbreiten.
Neben RT unterstützt die russische Regierung weitere Webseiten und selbst ernannte Nachrichtenportale wie Newsfront und Sputnik. Letzteres ist Ende 2014 mit dem Ziel gestartet, Inhalte aus 130 Städten in 34 Ländern und in 30 verschiedenen Sprachen zu veröffentlichen.
Viele von Newsfront und Co. verbreitete Wahrheiten kann man als gut gemachte Propaganda bezeichnen. Aber wie funktioniert diese Propaganda made in Russia, die es dem Kreml ermöglicht die Wahrheit zu verdrehen? Darauf kann man fünf wesentliche Antworten geben.
1. Weil viele Medien wie ein Netz miteinander verwoben sind
Um ihren Einfluss zu vergrößern, kooperieren RT, Sputnik, Newsfront und andere pro-russische Web- oder Facebooksites miteinander. So veröffentlicht Newsfront Artikel, die auf Sputnik erschienen sind. RT bezieht sich auf Experten-Interviews, die Newsfront geführt hat. Dadurch dienen sich die pro-russischen Medienmarken gegenseitig als Quelle und bilden zusammen einen Propaganda-Resonanzraum.
Egal ob es dem Kreml darum geht, die Ukraine zu destabilisieren, Kriegsverbrechen in Syrien zu verschleiern oder die Probleme der EU wegen der Flüchtlingskrise zu betonen, stets passen die Schlagzeilen von Sputnik oder RT zur Linie Moskaus. Oft greifen Diplomatie und Propaganda ineinander, um die Außenpolitik Putins zu stützen.
2. Durch das Prinzip der Radikal-Irreführung
Das zeigt das Beispiel des damals 13-jährigen Mädchens Lisa aus Berlin. Lisas Eltern meldeten sie im Januar 2016 als vermisst. Russlands TV-Sender Erster Kanal veröffentlichte einen TV-Beitrag, in dem behauptet wurde, dass Lisa in Berlin von Asylbewerbern entführt und 30 Stunden lang vergewaltigt worden sei. Neben dem Mädchen wurde im Film auch ihre Tante und eine angeblich spontane Demonstration aufgebrachter Bürger in Berlin gezeigt. Ein Mann sagte, es gebe ständig Vergewaltigungen und kündigte an, man werde auf Gewalt mit Gewalt antworten.
Andere russische Medien, darunter RT, Sputnik, Newsfront, berichteten über die Geschichte. Mal war von drei, mal von fünf oder sogar sieben Migranten die Rede, die die 13-Jährige mehrmals vergewaltigt haben sollten. Weitere Artikel erfanden ein Eingeständnis der deutschen Polizei, wonach die Vergewaltigungen tatsächlich stattgefunden hätten oder der Fall nur einer von vielen gewesen sei.
Das Prinzip dahinter: Durch die Erfindung einer extremen Lüge verliert die Realität an Glaubwürdigkeit – irgendwas muss an der Geschichte schon dran sein, alles kann nicht erlogen sein.
Alleine auf Facebook wurde das Video des Ersten Kanals über Lisa mit deutschen Untertiteln millionenfach angesehen und tausendfach geteilt. Es kam dadurch sogar zu Demonstrationen, die von pro-russischen Bürgern in Deutschland organisiert wurden. Etwa 12.000 Menschen gingen auf die Straßen. Sie forderten mit Russland-Fahnen in der Hand ein Ende von Merkels Kanzlerschaft. Der russische Außenminister Sergei Lawrow sprach davon, dass in Deutschland eine Medienkampagne gegen Russland laufe und die deutsche Polizei den Fall des russischen Mädchens nicht vernünftig aufkläre. Das Kanzleramt musste sich erklären.
3. Weil unabhängige Journalisten die Propaganda-Lügen übernehmen
Rückblende: Revolution und Kriegsbeginn in der Ukraine vor drei Jahren. In russischen Medien wird immer wieder behauptet, dass der Euromaidan-Volksaufstand von der CIA bezahlt und organisiert ist. Belege gibt es dafür keine. Trotzdem übernehmen Journalisten diese Erklärung in ihren Berichten als eine mögliche Ursache für die Ereignisse auf dem Maidan in Kiew. Schließlich hatten russische Medien, Experten und Politiker genau das ja behauptet. Seither konkurriert diese Behauptung mit der Realität, dass die Revolution ohne CIA-Organisation durchgeführt wurde – von den Bürgern der Ukraine.
Ein Grund für den Erfolg der russischen Propaganda erklärt sich aus dem Arbeitsprinzip unabhängiger Journalisten und der Tatsache, dass Bürger sich daran gewöhnt haben. Dieses Arbeitsprinzip besagt, dass man als nüchterne Berichterstatter beide Seiten einer Geschichte zu Wort kommen lassen sollte. A. sagt dies. B. sagt das. Wer objektiv berichtet, muss beide Seiten erklären. Wenn B. aber bewusst verzerrt oder sogar frei erfindet, rückt die “Mitte der Berichterstattung” schnell in Richtung einer Lüge. Die Beispiele der angeblichen Vergewaltigung Lisas und der angeblichen CIA-Aktivitäten in der Ukraine stehen stellvertretend für dieses Prinzip.
4. Durch systematisches Übertreiben
Den größten Erfolg hat russische Propaganda nicht mit dem Prinzip der Radikal-Irreführung (siehe Punkt 2). Oft genügt es, die Realität lediglich etwas anzuspitzen. “Bayern: Schwarzafrikaner prügeln Mann krankenhausreif”, lautet eine Nachricht, die von Newsfront in den vergangenen Tagen veröffentlicht wurde. In dem Artikel heißt es, in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar seien “drei pöbelnde Eritreer” durch die Straßen Taufkirchens gezogen. “Ein 49-jähriger Deutscher wollte die lauten Afrikaner lediglich um die Achtung der Nachtruhe bitten, als diese ihn mit brutaler Gewalt angriffen. Zunächst schubsten sie ihn, bevor sie das Opfer zu Boden schlugen und auf den nach Hilfe rufenden Mann eintraten.” Die Nachricht steht neben einem Foto, auf dem 30 dunkelhäutige Männer grimmig in die Kamera schauen.
Fragt man die für Taufkirchen zuständige Polizeistelle, was in der Nacht in Niederbayern geschehen ist, reagiert der Dienststellenleiter zurückhaltend. Das Opfer wurde leicht verletzt und musste kurz ambulant behandelt werden, sagt er. Aber: Es gab einen Vorfall, wegen dem eine Anzeige erstattet wurde. Die übertriebene Fake-News bezieht sich also auf einen wahren Kern.
Um eine für russische Propaganda sensible Öffentlichkeit zu erreichen und diese zu empören, müssen RT, Sputnik und Newsfront nicht immer Nachrichten erfinden, es genügt reale Ereignisse gezielt aufzubauschen und im Internet zu verbreiten. Geschieht das täglich nach dem gleichen Muster, werden beispielsweise Ängste vor Flüchtlingen gezielt geschürt.
5. Weil die Propaganda-Techniken Tradition haben
Propaganda gab es schon immer, nicht nur in Russland. Stichwort: Joseph Goebbels. Das Pentagon investierte viel, um zu verschleiern, dass der Grund, den Zweiten Irak-Krieg im Jahr 2003 zu beginnen, nicht auf Fakten basierte. Auch der Kreml hat eine besonders lange und erfolgreiche Geschichte des Erfindens vorzuweisen. Seit dem 20. Jahrhundert manipulieren Russlands Geheimdienste Medien anderer Länder. So streuten sie die Lüge, der Aidsvirus sei vom US-Militär verbreitet worden. Diese Art der Beeinflussung ist also nicht neu, sie funktioniert nur seit dem Online-Zeitalter besser als zuvor.
Rückblende: georgisch-russischer Krieg im Jahr 2008. Als das nach Westen strebende Georgien von Russland angegriffen wird, begleitet das russische Vorgehen eine Informationskampagne, die die Deutung des Krieges nicht nur in der russischen Öffentlichkeit bestimmt. So werden Journalisten russischer Staatsmedien schon am 2. August 2008 ins georgische Zchinwali gebracht, um sich auf die Berichterstattung über einen Krieg vorzubereiten, der offiziell noch gar nicht begonnen hat. Russland kann dadurch selbst produzierte Bilder für Fernsehen und Internet der folgenden Militäraktionen für seine Zwecke nutzen. Zudem setzt der Kreml erstmals in der russischen Militärgeschichte einen täglich live berichtenden professionellen Militärsprecher ein. Er verkündet in Interviews die russische Deutung des Kriegsverlaufs und dient als Nachrichtenquelle.
Russische Medien behaupten, im georgischen Südossetien seien 2.000 Zivilisten durch die georgischen Angriffe getötet worden. RT, vom Kreml kurz zuvor vergrößert, beginnt eine Nachrichtensendung mit dem Wort “VÖLKERMORD”. Passend dazu sagt Dimitri Medwedew, der gerade Präsident geworden war, weil Putin nach zwei Amtszeiten pausieren musste, die Aktionen der georgischen Seite könnten nicht anders als Völkermord bezeichnet werden. Diese mehrmals wiederholte Behauptung eines Präsidenten entspricht nicht der Realität, verbreitet sich aber weltweit.
Die Völkermord-Lüge aus Georgien ist eine Fake-News aus dem Jahr 2008. Sie liegt fast ein Jahrzehnt zurück. Im Zusammenspiel mit vielen anderen Falschmeldungen hat sie das Narrativ über den Verlauf des Krieges bestimmt.
Je mehr Zeit vergeht, desto mehr verschwinden die Erinnerungen an reale Ereignisse. Die Lügen des Kreml bleiben aber bestehen, oft wiederholt von RT und Co. dienen sie als Grundlage für Verschwörungstheorien. Sie sind heutzutage von fast jedem Ort der Welt nur mit wenigen Klicks zu erreichen.
Erschienen auf ZEIT ONLINE