Ennas Mutter hatte gesagt: “Vier Jahre alte Mädchen werden da zerdrückt!” Ein Stadionbesuch im November sei kein Zuckerschlecken. Aber Enna wollte. Ich auch. Also sind wir losgefahren.
U-Bahn, ICE, U-Bahn, Arena. Hannover 96 gegen den SC Freiburg, das klingt nicht nach Spitzenfußball. Wollten wir auch nicht. Enna kam in Hamburg auf die Welt, hat Verwandtschaft nahe Rostock und ist in Berlin aufgewachsen. Da erlebt man viel, aber keine Champions League.
Ein normales Bundesligaspiel sollte es sein. Ein kleiner Test: Geht es überhaupt – mit einem Menschen, der nur nach gesungenem LaLeLu einschläft? In einem dieser Stadien, in denen sich Ultras herumtreiben? Viele von denen spielen mit Feuer – wenn man glaubt, was viele Innenminister sagen und einige Medien schreiben.
Ennas Lieblingsfarbe ist rot. Ich mochte Freiburgs Konzept schon in den Neunzigern und Christian Streichs Weitsicht. Wir sind uns uneinig. Enna malt Blumen und Zauberponys. Funkstille im ICE.
Erst vor dem Stadion auf der Robert-Enke-Straße staunen wir zusammen. Acht grün-schwarz-weiß gestreifte Häkel-Mützen wackeln in ein Meter fünfzig an uns vorbei. Acht Jungs zwischen fünf und sieben. Alle acht mit Hannover-Schal. Alle Fans der Roten. Sie feiern Geburtstag. Und wir rennen natürlich hinterher. Block S, Familien-Block, wo ein Vater-Sohn/Mutter-Tochter-Ticket 29 Euro kostet und wo keiner raucht.
Enna setzt sich neben Romy, die schon fünf ist und mit ihrer noch älteren Schwester da ist. Romy ist auch für die Roten, weil ihre Eltern für die sind, und weil Romy aus Hannover kommt. Ich sage, schaut aufs Spielfeld, die Weißen kombinieren besser. Zwei Reihen über uns gibt es erste Tumulte. Der Papa holt Bier, und die Mama kann nicht schlüssig erklären, auf welches Tor die Roten denn jetzt spielen.
Als ich das erste Mal ein Fußballstadion betrat, war ich mindestens doppelt so alt wie Enna. Einen Familienblock gab es in Rostock nicht. Aber ich erinnere mich an viele Männer, die besoffen wankten und Bananen und böse Worte aufs Feld schmissen.
In den Bundesligastadien kommt es mir heute viel friedlicher und toleranter vor. Die Affengeräusche sind verschwunden. Ich sehe nur noch wenige wanken. Aber die Innenminister wollen die Sicherheitskontrollen für alle Fußballfans extrem erhöhen. Laut einer aktuellen Statistik hat die Polizei in der vergangenen Saison 8.143 Strafverfahren gegen gewalttätige Fans eingeleitet. Das soll Rekord und viel mehr als in den zwölf Jahren davor sein.
Dann die 12. Spielminute. Die Weißen spielen die Roten im Strafraum schwindelig. Freiburg schießt das 1:0. Völlig verdient. Die Roten liegen zurück, sage ich zu Enna und Romy. Enna schaut weg.
Nach einer Weile fragt sie, wieso dieser Fußballplatz AWD-Arena heißt. Ich hab ihr neulich erklärt, wo Kiew liegt, aber Finanzdienstleister, dieser, ich versuch’s gar nicht erst.
Noch vor der Pause haben die Hannoveraner Glück. Der Schiedsrichter entscheidet Handelfmeter. Direkt vor dem Familienblock läuft ein Roter an. 1:1 zur Pause. Dennoch Unzufriedenheit im Kinderblock. Romys Mutter sagt, im Fernsehen sehe der Fußball immer schneller aus, als er wirklich ist.
Familien-Bereiche gibt es inzwischen in jedem Bundesliga-Stadion. In Wolfsburg in der Wölfi-Kurve haben sie in die Arena gar einen kleinen Spielplatz gebaut. Der Frauenanteil der Stadionbesucher soll in den vergangenen Jahren stetig gewachsen sein, bei etwa 30 Prozent liegen. Wie viele Kinder jedes Wochenende unter den etwa durchschnittlich 45.000 Fans in einem Stadion sind, hat noch keiner gezählt. Laut meiner nicht repräsentativen Schätzung sind es in Hannover viele. Väter macht es stolz, was ihre Kinder anstellen – wenn es im Fußballstadion passiert noch mehr.
In der zweiten Halbzeit ist der Torwart der Roten ganz nah, 30 bis 40 Meter. Noch dichter dran stehen Luca, 7, und Torben, 8. Die beiden halten sich ganz vorne am Zaun fest, in den Händen ein aus acht A3-Zetteln zusammengeklebtes Plakat. Auf roten Hintergrund haben sie “Ron-Robert, Du bist mein Idol. Bitte gib mir Dein Trikot” geschrieben.
Sie rufen “Ro-o-n-Ro-o-be-ert-Zi-ie-ie-ler”, “Ro-o-n-Ro-o-be-ert-Zi-ie-ie-ler”, “Ro-o-n-Ro-o-be-ert-Zi-ie-ie-ler”. Minutenlang. Ron-Robert guckt nicht, in der 55. Minute schießt ihm ein Weißer das 2:1 ins Tor.
Es läuft nicht gut für die Roten. Dann ist der heiße Kakao am Stadionimbiss alle. Enna trinkt Kamillentee mit Zucker und läuft die Stufen am Ende der Sitzreihen hoch und runter.
Die Kinder im Kinderblock akzeptieren die Niederlage. Ein Erwachsener nicht. Er zündet einen Böller und wirft ihn in den Fanblock der Weißen. Es rumst wie im Krieg. Enna zuckt zusammen. Es ist die einzige Sekunde an diesem Nachmittag, in der ich kein gutes Gefühl habe. Aber die Fans der Weißen nehmen keine Rache.
Von einer “riesengroßen Enttäuschung” spricht der Trainer der Roten, Mirko Slomka, nach dem Abpfiff. 2:1 geht gar nicht, so Romy. Christian Streich, der Trainer der Weißen, sagt, er sei “stolz auf seine Jungs”.
Luca und Torben stehen noch lange am Spielfeldrand. Beide spielen selbst Fußball. Sie zeigen ihre zusammengeklebten acht A3-Zettel. Aber Ron-Robert sieht nichts. Keiner der Roten kommt zum Block S.
Auf dem Rückweg zur U-Bahn verkauft eine Frau alte Schals der Roten für zwei Euro. Dosenbier ist günstiger. Ein paar Männer singen “Scheeeiß-eegaal, Scheeeiß-eegaal, Scheeeiß-eegaal”. Enna lässt den Kopf hängen. Wir gehen wieder an der Robert-Enke-Straße vorbei. Ich trage meine Tochter auf Huckepack. Sie legt ihr Gesicht auf meine Pudelmütze und umarmt mich. Dann sagt sie: “Papa, macht doch gar nichts, dass die Roten verloren haben.”