Fast jedes siebte Kind in Deutschland lebt von Hartz IV. Über Kinderarmut sprechen meist aber nur Erwachsene. Was sagt ein Sechsjähriger selbst dazu?
Die alleinerziehende Mutter von Raphael wandte sich an ZEIT ONLINE, als die Redaktion Leserinnen und Leser fragte, wie sie mit Hartz IV zurechtkommen. “Ich und meine zwei Kinder leben von Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, meinem Job auf 450-Euro-Basis und etwa 600 Euro vom Jobcenter”, schrieb sie.
Wie sieht Raphaels Leben aus? Arm? Reich? Um das zu erfahren, habe ich ihm in diesem Sommer für mehrere Wochen eine Einwegkamera mitgegeben, ohne Anweisungen oder Vorgaben. Mit dem Einverständnis seiner Mutter hat er seinen Alltag fotografiert, manchmal auch ihr die Kamera in die Hand gegeben. Erst zur Auswertung der Fotos habe ich Raphael wiedergetroffen und zugehört, was er über die Bilder seines Leben erzählt.
1. In der Pfütze
Das bin ich. Und da hält meine Mutter die Kamera in der Hand. Wir laufen von unserer Haustür zum Fluss. Hat geregnet. Klicke Klacke Hühnerkacke. Aber ich habe die Mütze von meinem Freund Milan auf. Die hat er mir geschenkt. Milan ist schon sieben. Er ging in meine Kita. Jetzt ist er schon in der Schule. Milan hat mir den Spitznamen Ziehhhraffe gegeben. Kommt von Giraffe. Und kommt von Raphael. Zusammen haben wir im Wald oft Räuber und Polizei gespielt.
2. Im Arm
Das ist die Zippeldecke von meiner kleinen Schwester. Und Mamas Arm. Und die Hand von meiner Schwester. Die Zippeldecke hat Oma gestrickt und meiner Schwester zur Geburt geschenkt. Damit kuscheln wir oft. Ich habe auch eine eigene Zippeldecke. Ich nehme die als Kopfkissen in der Nacht in unserem Hochbett. Oder zum Einkuscheln. Die hat auf jeden Fall Zauberkraft. Wenn mich eine Mücke sticht und es danach juckt, hilft es, wenn ich die Zippeldecke auf die Stelle lege.
3. In der Maske
Ich bin der Wolf. Milan ist der Fuchs. Clemens ist die Eule. Emil, mein Cousin, ist der Frosch. Das ist an meinem sechsten Geburtstag. Wir machen eine Schatzsuche. Und wir tragen alle Masken, damit uns der Waldtroll nicht erkennt. Hat gut geholfen.
4. Im Versteck
Das ist die Schatzkarte. Und da sind auch unsere Schippen.
5. Im Fluss
Da finden wir auf der Insel den Schatz. Genau da, wo das Kreuz ist, wühlen wir rum und buddeln in der Erde. War voll tief. Mama hat gesagt, Zwerge haben den Schatz versteckt. Aber so viele Zwerge gibt es gar nicht, dass die eine ganze Kiste tragen und verbuddeln könnten. Ich glaub’ ja, Mama hat den Schatz versteckt. Aber ohne Schatzkarte hätten wir den nie gefunden. In der Kiste haben wir Wasserbomben und goldene Taler gefunden. Haben wir alles aufgeteilt und eine Wasserschlacht gemacht. Ich hab’ Emil mit ‘ner Wasserbombe abgefeuert.
6. In der Feuerdecke
Hier liege ich in meiner Feuerdecke auf unserem Sofa in unserer Hutschachtel. So sagt meine Mama manchmal zu unserer Wohnung. Ich bin gerade von einem Wochenende bei meinem Papa zurückgekommen. Jetzt höre ich Ferien auf Saltkrokan von Astrid Lindgren. Da gibt es einen fetten Bernhardiner. Der heißt Bootsmann. Die Feuerdecke heißt übrigens Feuerdecke, weil sie wie ein Feuer aussieht. Und Phips ist ja auch da. Das ist der Teddy von meiner kleinen Schwester. Manchmal, wenn sie schläft, läuft Phips einfach los und schubst alle ihre Bücher um.
7. Im Garten
Da sind wir barfuß, meine Schwester und ich. Wir essen Pizza. Und vielleicht machen wir auch gerade beide zwei richtig lange Pupse. Wenn ich Pizza esse, pupse ich oft. Das ist alles. Und: Ich kann lauter pupsen als meine Schwester.
8. In einer Kuh
Hier sehen wir gleich ein frisch geborenes Kälbchen. Die Kühe haben auf der Wiese gestanden, als wir vorbeigekommen sind. Dann sieht Mama auf einmal zwei ganz kleine Hufe. Die sind aus der Kuh rausgekommen. Und dann haben wir gesehen, wie aus der Kuh noch mehr rausgekommen ist: eine kleine Kuh. Die war ganz schwarz. Die Kuhmama hat sie gleich abgeschleckert. Und dann wollte das Kälbchen aufstehen, ist aber gleich wieder umgefallen.
9. Im Schneckenhaus
Das sind drei Schnecken auf meiner Hand. Die ärgern sich nicht. Die kriechen da einfach rum. Ich bin nämlich ein Schneckenflüsterer. In diesem Jahr haben wir auch schon Weinbergschnecken im Wald gefunden. Zwei von denen passen auch auf meine Hand. Die Weinbergschnecken habe ich in unseren Garten gesetzt. Eine von den beiden haben wir George genannt. Schnecken haben ja auch Ohren. Wenn ich da reinflüstere, hören die das. Manchmal tanzen die dann auf einem Bein.
10. Im Bild
Das ist ein Bild von meiner kleinen Schwester. Das hat sie gemalt, als ich mit dem Reporter geredet habe. Da haben wir zu Hause in unserer Hutschachtel gesessen und uns alle Fotos angeschaut, die ich in diesem Sommer mit der kleinen Kamera gemacht habe. Phips war auch dabei und Mama. Wir haben auch über das Wort Armut gesprochen. Ich kenn’ das nicht. Meine kleine Schwester auch nicht. Als wir darüber geredet haben, hat sie das erste Mal in ihrem Leben eine Schnecke gemalt.